Die Friedenskirche wird in diesem Jahr 100 Jahre alt. Lesen Sie hier den Bericht eines Gemeindegliedes, das schon in den 40er Jahren dabei war:
Vor über 60 Jahren, etwa 1942-43 (in den Kriegstagen) während eines Gottesdienstes erlebte ich eine Geschichte, die mich noch heute stark beschäftigt. Es predigte Pastor Radau und in der Stille des Zuhörens gab es plötzlich an der Tür Unruhe. Pastor Radau unterbrach die Predigt und alle schauten sich nach der Störung um und erstarrten!
In der Tür stand eine ältere Frau – eine Jüdin mit einem Gelben Stern. (Zum Verständnis: Es war für beide Seiten unter Strafe gestellt, dass Juden sich mit sogenannten „Ariern“ in einem Raum aufhalten.) Nach einer kurzen Pause der Sammlung fragte der Pastor nach ihrem Namen. Es war eine Frau Nagel.
Pastor Radau sprach sie dann mit ihrem Namen an, und sinngemäß waren seine Worte etwa so: „Liebe Frau Nagel, wir wissen alle, dass wir uns an Gesetze halten müssen, – ich trage im Augenblick die Verantwortung für diese Gemeinde. Aber Jesus Christus ist für uns alle gestorben und die Worte „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen“ – das gilt auch heute. Deshalb bitte ich Sie auch um Verständnis, dass wir Sie nicht in den Raum bitten können. Doch ich bitte die Brüder an der Tür, dass sie die Kirchentür weit öffnen und für Frau Nagel an die Tür einen Stuhl stellen, damit sie Gottes Wort hören kann.“
So geschah es, – Frau Nagel allerdings war nicht mehr lange in Oberschöneweide zu sehen. Sicher musste sie den Weg aller Juden gehen.
Dies war für mich als etwa 10 jährige ein sehr nachdenkliches Ereignis und wohl auch das erste Mal, dass ich so nahe mit diesen armen Menschen und ihrem Schicksal konfrontiert wurde. Es erschüttert mich bis heute, wenn ich an dieses Erlebnis denke.
Sigrid Maetsch